Veröffentlicht am Mai 17, 2024

Die frustrierende Wiederkehr von Laufverletzungen ist kein Schicksal, sondern meist das Ergebnis eines fehlenden Managementsystems für den eigenen Körper.

  • Die wirksamste Prävention zielt auf die Beseitigung grundlegender muskulärer Asymmetrien ab, nicht nur auf die Behandlung von Symptomen.
  • Kräftigung ist weitaus effektiver als Dehnen, um die Belastbarkeit des Gewebes zu erhöhen und Verletzungen vorzubeugen.
  • Das oberste Ziel ist maximale Trainingsverfügbarkeit – die Fähigkeit, konstant trainieren zu können, ist wichtiger als einzelne Spitzenleistungen.

Empfehlung: Betrachten Sie Prävention nicht als lästige Aufgabe, sondern als intelligentes Management Ihrer wichtigsten Ressource: Ihrer Fähigkeit, konstant und schmerzfrei zu trainieren.

Jeder ambitionierte Sportler in Deutschland kennt das Gefühl: Man ist auf einem guten Weg, die Leistungskurve zeigt nach oben, und plötzlich zwingt ein stechender Schmerz im Knie, in der Achillessehne oder im Rücken zu einer ungewollten Pause. Der Zyklus aus Training, Verletzung und Frustration beginnt von Neuem. Viele greifen dann zu altbekannten Ratschlägen wie mehr Dehnen, neuen Laufschuhen oder einfach nur „auf den Körper zu hören“. Doch oft bleiben diese Maßnahmen oberflächlich und bekämpfen nur die Symptome, nicht die eigentliche Ursache.

Das Problem liegt selten in einem einzelnen Fehler, sondern in der Herangehensweise. Verletzungen sind oft das Resultat kleiner, sich summierender Dysbalancen und einer unzureichenden Anpassung an die Trainingsbelastung. Was wäre, wenn der Schlüssel zur Verletzungsfreiheit nicht darin liegt, noch mehr einzelne Übungen in den Trainingsplan zu quetschen, sondern darin, den eigenen Körper als ein komplexes System zu verstehen und proaktiv zu managen? Der Fokus verschiebt sich weg von der reinen Reaktion auf Schmerz hin zur Etablierung einer fundamentalen Kennzahl: der maximalen Trainingsverfügbarkeit.

Dieser Artikel führt Sie durch einen systematischen Ansatz zur Verletzungsprävention. Wir analysieren die häufigsten Überlastungsschäden, bewerten die Effektivität verschiedener Präventionsmethoden und zeigen Ihnen, wie Sie die wahren Ursachen – muskuläre Asymmetrien – selbst identifizieren können. Ziel ist es, Ihnen ein analytisches Framework an die Hand zu geben, mit dem Sie Ihre Belastung intelligent steuern und Ihre Fähigkeit, langfristig gesund zu trainieren, zur Priorität machen.

Um Ihnen einen klaren Weg durch dieses komplexe Thema zu bieten, ist dieser Leitfaden in logische Abschnitte unterteilt. Der folgende Überblick zeigt Ihnen die Struktur, die wir gemeinsam durcharbeiten werden, um ein robustes System für Ihre Verletzungsprävention aufzubauen.

Welche 4 Überlastungsverletzungen 80% der Läufer treffen und warum?

Verletzungen im Laufsport sind keine Seltenheit; tatsächlich zeigen Statistiken, dass sich rund 30 % der aktiven Läufer in Deutschland pro Jahr verletzen. Die meisten dieser Verletzungen sind keine akuten Traumata durch Stürze, sondern schleichende Überlastungsschäden. Sie entstehen, wenn die kumulative Belastung auf eine bestimmte Struktur – wie eine Sehne oder ein Gelenk – deren Belastbarkeit oder „Belastungs-Toleranz“ über einen längeren Zeitraum übersteigt. Der Körper hat keine ausreichende Zeit zur Anpassung und Reparatur, was zu Mikroverletzungen, Entzündungen und Schmerzen führt.

Vier Diagnosen machen dabei den Löwenanteil der Beschwerden aus:

  1. Das Läuferknie (Patellofemorales Schmerzsyndrom): Ein diffuser Schmerz an der Vorder- oder Außenseite des Knies, der oft durch eine fehlerhafte Führung der Kniescheibe verursacht wird. Ursachen sind häufig eine schwache Hüft- und Rumpfmuskulatur.
  2. Das Schienbeinkantensyndrom (Mediales Tibiakantensyndrom): Schmerzen entlang der inneren Schienbeinkante, die durch eine Reizung der Knochenhaut und der dort ansetzenden Muskeln entstehen. Eine zu schnelle Steigerung des Trainingsumfangs ist hier ein klassischer Auslöser.
  3. Die Achillessehnen-Tendinopathie: Eine schmerzhafte Verdickung und Reizung der Achillessehne, die auf eine chronische Überlastung zurückzuführen ist. Schwache Wadenmuskeln und eine eingeschränkte Beweglichkeit im Sprunggelenk sind oft beteiligt.
  4. Die Plantarfasziitis: Ein stechender Schmerz unter der Ferse, besonders bei den ersten Schritten am Morgen. Hierbei entzündet sich die Sehnenplatte an der Fußsohle (Plantarfaszie).

Obwohl diese Verletzungen unterschiedliche Körperteile betreffen, haben sie eine gemeinsame Wurzel: ein Missverhältnis zwischen Belastung und Belastbarkeit. Eine Analyse der Verletzungen im deutschen Vereinssport zeigt beispielsweise, dass Verletzungen im Bereich des Sprunggelenks mit 27 Prozent aller Verletzungen die häufigste Diagnose darstellen, was die Bedeutung stabiler Fuß- und Beinachsen unterstreicht.

Wie Sie mit 15 Minuten Prävention pro Woche Ihr Verletzungsrisiko halbieren?

Die Vorstellung, neben dem eigentlichen Training noch stundenlange Präventionsübungen absolvieren zu müssen, schreckt viele Sportler ab. Doch die moderne Sportwissenschaft zeigt, dass nicht die Dauer, sondern die Konsistenz und Spezifität der Übungen entscheidend sind. Das Konzept der „Minimal-effektiven Dosis“ besagt, dass bereits ein geringer, aber hochfrequenter und gezielter Trainingsreiz ausreicht, um signifikante Anpassungen im Körper hervorzurufen. Es geht darum, das Maximum aus dem Minimum herauszuholen.

Eine wegweisende Studie der Universität Göteborg zeigte eine Reduktion des Verletzungsrisikos um 85 % bei Freizeitläufern, die ein einfaches, aber konsequent durchgeführtes Präventionsprogramm absolvierten. Dies unterstreicht, dass bereits ein kleiner, regelmäßiger Zeitaufwand einen enormen Unterschied machen kann. Ein effektives Programm muss nicht kompliziert sein und lässt sich perfekt zu Hause durchführen.

Läufer führt eine einbeinige Stabilitätsübung in einem modernen deutschen Wohnzimmer aus, was das Konzept der minimal-effektiven Dosis für das Heimtraining veranschaulicht.

Wie das Bild zeigt, benötigen Sie für ein effektives Präventionstraining kein Fitnessstudio. Der Fokus liegt auf Übungen, die die neuromuskuläre Kontrolle, die Rumpfstabilität und die Kraft der bein- und hüftstabilisierenden Muskulatur verbessern. Schon zwei Einheiten à 15-20 Minuten pro Woche können ausreichen, um die entscheidenden Strukturen zu stärken. Wichtig ist, diese Zeit als festen Bestandteil des Trainings zu betrachten, genau wie einen Dauerlauf oder ein Intervalltraining. Die Regelmäßigkeit ist der Schlüssel, um die Belastungs-Toleranz des Körpers systematisch zu erhöhen.

Dehnen, Kräftigung oder Mobilität: Was verhindert Verletzungen am besten?

Die Frage nach der besten Präventionsmethode führt oft zu hitzigen Debatten. Insbesondere das statische Dehnen wird traditionell als Allheilmittel gegen Verletzungen angesehen. Doch die wissenschaftliche Evidenz zeichnet ein differenzierteres Bild. Um Klarheit zu schaffen, ist es entscheidend, die unterschiedlichen Methoden und ihre spezifischen Wirkungen zu verstehen. Nicht jede Methode ist für jedes Ziel gleich gut geeignet. Es gibt eine klare Hierarchie der Wirksamkeit.

Der deutsche Marathon-Europameister Richard Ringer bringt die Komplexität auf den Punkt, wie er in einem Interview bei Exakt Health erklärt:

Studien haben gezeigt, dass sich das akute Verletzungsrisiko durch fehlende Flexibilität bei Läufern erhöhen kann. Gleichzeitig zeigen sie aber auch, dass übermäßige Flexibilität das Risiko für Überlastungsverletzungen nicht verringert. Daraus lässt sich ableiten, dass ein gutes Maß an Beweglichkeit für Läufer wichtig ist.

– Richard Ringer, Marathon-Europameister bei Exakt Health

Dies bedeutet, dass Mobilität (die Fähigkeit, ein Gelenk aktiv über seinen vollen Bewegungsumfang zu bewegen) wichtiger ist als passive Flexibilität (Dehnbarkeit). Dynamisches Dehnen kann zur kurzfristigen Aktivierung vor dem Lauf sinnvoll sein, trägt aber kaum zur langfristigen Verletzungsprävention bei. Das unangefochtene Fundament der Prävention ist die Kräftigung. Starke Muskeln und Sehnen können höhere Lasten tolerieren, verbessern die Laufökonomie und stabilisieren die Gelenke bei jedem Schritt. Die folgende Tabelle, basierend auf einer Analyse von Präventionsstrategien, verdeutlicht die Prioritäten.

Vergleich der Präventionsmethoden: Priorität und Wirkung
Methode Priorität Wirkung Zeitaufwand/Woche
Kräftigung Fundament Verbesserte Laufökonomie, Stabilität 2×15 Min
Mobilität Optimierer Bewegungsfreiheit, Verletzungsrisiko ↓ 2×10 Min
Dynamisches Dehnen Aktivator Vorbereitung, keine Verletzungsprävention Vor jedem Lauf 5 Min

Wie Sie muskuläre Asymmetrien als Hauptursache von Verletzungen identifizieren?

Die meisten Überlastungsverletzungen treten einseitig auf. Das Knie schmerzt links, die Achillessehne rechts. Dies ist ein starker Hinweis darauf, dass die Ursache oft nicht im globalen Trainingsumfang, sondern in einer grundlegenden Asymmetrie des Körpers liegt. Eine solche muskuläre oder funktionelle Dysbalance führt dazu, dass eine Körperseite systematisch mehr Last aufnehmen muss als die andere. Über tausende von Schritten summiert sich diese ungleiche Verteilung und überlastet die schwächere oder instabilere Seite. Die Identifikation dieser Asymmetrien ist daher der wichtigste Schritt im proaktiven System-Management.

Moderne Laufuhren bieten bereits erste Anhaltspunkte. Ein wichtiger Messwert ist die Balance der Bodenkontaktzeit. Experten weisen darauf hin, dass eine regelmäßige Abweichung von mehr als drei Prozent zwischen links und rechts ein kritisches Anzeichen für eine signifikante Dysbalance ist, die das Verletzungsrisiko erhöht. Doch auch ohne technische Hilfsmittel können Sie mit einfachen Selbsttests verborgene Asymmetrien aufdecken.

Makroaufnahme der Beinmuskulatur eines Läufers während einer einbeinigen Kniebeuge, die die Muskelspannung und mögliche Asymmetrien hervorhebt.

Die gezielte Beobachtung des eigenen Körpers bei einbeinigen Übungen ist ein mächtiges diagnostisches Werkzeug. Schon kleine Unterschiede in der Stabilität, Kraft oder Beweglichkeit können auf eine grundlegende Schwachstelle hinweisen. Der folgende Test-Parcours hilft Ihnen dabei, solche Unterschiede systematisch aufzudecken.

Ihr Aktionsplan: Selbsttest zur Identifikation muskulärer Asymmetrien

  1. Einbeinige Kniebeuge: Führen Sie auf jeder Seite 10 langsame und kontrollierte einbeinige Kniebeugen durch. Achten Sie auf Unterschiede in der Stabilität (Wackeln), Tiefe und Kraft. Notieren Sie, welche Seite sich schwächer anfühlt.
  2. Einbeinige Brücke: Legen Sie sich auf den Rücken, stellen Sie einen Fuß auf und heben Sie das Becken an. Stoppen Sie die Zeit, die Sie die Position sauber halten können, bevor das Becken absinkt oder verkrampft. Vergleichen Sie die Haltezeit beider Seiten.
  3. Einbeinstand mit geschlossenen Augen: Stellen Sie sich auf ein Bein und schließen Sie die Augen. Messen Sie die Zeit, bis Sie das Gleichgewicht verlieren. Eine deutliche Differenz von mehr als 10-15 Sekunden zwischen den Seiten ist ein klares Warnsignal.
  4. Einbeiniger Hopserlauf: Führen Sie 5 aufeinanderfolgende Sprünge auf einem Bein so weit wie möglich nach vorne aus. Messen Sie die Gesamtdistanz für jede Seite. Eine Differenz von mehr als 10 % deutet auf ein Kraftdefizit hin.
  5. Bewertung & Konfrontation: Bewerten Sie die Seitendifferenzen. Liegen sie konstant bei über 15-20 %? Dies ist Ihre Priorität im Krafttraining. Integrieren Sie gezielt einbeinige Übungen (Split Squats, Step-ups), um die schwächere Seite anzugleichen.

Wann Sie nach einer Verletzung wieder voll belasten können: Die 4 Kriterien?

Trotz bester Prävention kann es zu einer Verletzung kommen. Eine der kritischsten Phasen ist der Wiedereinstieg ins Training. Zu früh, und die Verletzung flammt erneut auf. Zu spät, und man verliert unnötig viel Fitness. Anstatt sich auf vage Zeitangaben zu verlassen, sollten Sportler einen kriterienbasierten Ansatz verfolgen. Ein „Return-to-Run“-Protokoll gibt klare, objektive Meilensteine vor, die erfüllt sein müssen, bevor die Belastung sicher gesteigert werden kann.

Als erste Sofortmaßnahme bei akuten Schmerzen gilt in Deutschland die bewährte PECH-Regel (Pause, Eis, Compression/Kompression, Hochlagern). Sie dient dazu, die Erstreaktion des Körpers wie Schwellung und Einblutung zu minimieren. Sobald die akuten Beschwerden im Alltag abgeklungen sind, beginnt der eigentliche, kriteriengeleitete Wiedereinstieg. Erst wenn alle vier der folgenden Punkte vollständig und schmerzfrei erfüllt sind, ist der Körper bereit für eine schrittweise Rückkehr zur vollen Belastung:

  1. Vollständige Schmerzfreiheit im Alltag: Alle alltäglichen Bewegungen wie Gehen, Treppensteigen oder langes Sitzen müssen über mehrere Tage hinweg absolut schmerzfrei sein. Ein Restschmerz, egal wie gering, ist ein klares Stoppsignal.
  2. Volle und symmetrische Beweglichkeit: Das verletzte Gelenk muss seinen vollen, schmerzfreien Bewegungsumfang wiedererlangt haben. Vergleichen Sie die Beweglichkeit aktiv mit der gesunden Gegenseite. Es dürfen keine signifikanten Einschränkungen mehr bestehen.
  3. Symmetrische Kraft: Die Kraft der Muskulatur um die verletzte Struktur muss nahezu vollständig wiederhergestellt sein. Dies kann durch einfache Tests (wie die im vorherigen Abschnitt beschriebenen) überprüft werden. Eine Kraftdifferenz von maximal 10 % zur gesunden Seite gilt als akzeptabler Grenzwert für den Laufeinstieg.
  4. Erfolgreicher Belastungstest: Der letzte Test ist ein kurzer, lockerer Laufversuch. Beginnen Sie mit 10-15 Minuten schmerzfreiem Joggen auf weichem Untergrund. Treten währenddessen oder in den 24 Stunden danach keine Schmerzen auf, ist das erste Kriterium für den progressiven Aufbau erfüllt.

Treten bei einem dieser Schritte erneut Schmerzen auf, gehen Sie einen Schritt zurück und geben dem Körper mehr Zeit. Bei wiederholten Problemen ist die Konsultation eines Sportarztes oder Physiotherapeuten unerlässlich, um die Ursache genau abzuklären.

Warum 90% Trainingsverfügbarkeit wichtiger ist als perfekte Einzelworkouts?

Im Streben nach Bestzeiten und neuen Rekorden verfallen viele Athleten dem Irrglauben, dass jedes einzelne Training perfekt und an der Leistungsgrenze stattfinden muss. Sie jagen Spitzenleistungen in isolierten Einheiten und ignorieren dabei oft die wichtigste Kennzahl für langfristigen Erfolg: die Trainingsverfügbarkeit. Dieses Konzept beschreibt den prozentualen Anteil der Zeit, in der ein Sportler tatsächlich in der Lage ist, sein geplantes Training gesund und ohne schmerzbedingte Ausfälle durchzuführen.

Ein Athlet, der über ein Jahr hinweg 90 % seines Trainingsplans absolvieren kann – auch wenn einige Einheiten bewusst lockerer gestaltet sind – wird am Ende deutlich leistungsfähiger sein als ein Athlet, der immer wieder brillante, aber erschöpfende Workouts absolviert und dadurch nur auf 60 % Verfügbarkeit kommt, weil er ständig durch kleine Verletzungen und Überlastungserscheinungen zurückgeworfen wird. Konstanz schlägt Intensität. Der physiologische Grund dafür ist das Prinzip der Superkompensation: Der Körper verbessert sich nicht während der Belastung, sondern in der Regenerationsphase danach. Chronische Überlastung verhindert diese Anpassung und führt stattdessen zu einem Leistungsabfall.

Das Ziel muss es also sein, die Trainingsbelastung so zu steuern, dass sie immer innerhalb der individuellen Belastungs-Toleranz bleibt. Es ist klüger, ein Training bewusst abzukürzen oder einen zusätzlichen Ruhetag einzulegen, wenn man erste Warnsignale spürt, als einen Trainingsausfall von mehreren Wochen zu riskieren. Die Denkweise verschiebt sich von „Was ist das Maximum, das ich heute leisten kann?“ zu „Welche Belastung kann ich heute tolerieren, um sicherzustellen, dass ich auch morgen und nächste Woche noch trainieren kann?“. Diese strategische Zurückhaltung ist keine Schwäche, sondern die höchste Form des intelligenten Trainingsmanagements.

Die 5 Warnsignale, dass Sie zu schnell steigern, bevor die Verletzung kommt?

Das Konzept der „Trainingsverfügbarkeit“ erfordert, dass wir lernen, die Signale unseres Körpers richtig zu deuten, bevor aus einer leichten Übermüdung eine handfeste Verletzung wird. Der Körper sendet in der Regel deutliche Warnsignale, wenn die Balance zwischen Belastung und Erholung gestört ist. Diese Signale zu ignorieren, ist einer der häufigsten Fehler auf dem Weg ins Übertraining und zu Verletzungen. Ein proaktives System-Management bedeutet, diese Indikatoren aktiv zu überwachen und das Training entsprechend anzupassen.

Biomechanikerin Irene Davis von der University of Delaware fasst das Grundprinzip treffend zusammen: Jeder Läufer hat eine individuelle Belastungsgrenze. Sobald man diese überschreitet, reagiert der Körper mit Beschwerden. Anstatt sich stur an einen Trainingsplan zu klammern, ist es entscheidend, auf die folgenden fünf kritischen Warnsignale zu achten, die auf eine beginnende Überlastung hindeuten:

  • 1. Anhaltend schwere Beine: Ein Gefühl von Müdigkeit in den Beinen direkt nach einem harten Training ist normal. Hält dieses Gefühl jedoch über mehrere Tage an und verschwindet auch nach Ruhetagen nicht, ist dies ein klares Zeichen für eine unzureichende Regeneration.
  • 2. Abnehmende Trainingsmotivation und Reizbarkeit: Wenn die Lust am Training plötzlich nachlässt und Sie sich allgemein gereizt oder schlecht gelaunt fühlen, kann dies ein psychologisches Symptom einer physiologischen Überlastung sein. Das vegetative Nervensystem ist im Ungleichgewicht.
  • 3. Verschlechterte Schlafqualität: Probleme beim Ein- oder Durchschlafen oder das Gefühl, morgens nicht erholt zu sein, sind oft frühe Indikatoren für Übertraining. Der Körper befindet sich in einem permanenten „Alarmzustand“, der die Erholung stört.
  • 4. Sinkende Herzfrequenzvariabilität (HRV): Die HRV ist ein Maß für die Anpassungsfähigkeit des vegetativen Nervensystems. Ein konstant sinkender oder sehr niedriger HRV-Wert, den viele moderne Sportuhren messen, signalisiert, dass der Körper unter starkem Stress steht und mehr Erholung benötigt.
  • 5. Erhöhter Ruhepuls: Ein morgendlicher Ruhepuls, der an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen um mehr als 5 Schläge pro Minute über Ihrem normalen Durchschnitt liegt, ist ein klassisches und sehr zuverlässiges Zeichen dafür, dass der Körper noch mit der Regeneration der letzten Belastungen beschäftigt ist.

Wenn Sie zwei oder mehr dieser Signale bei sich feststellen, ist es an der Zeit, proaktiv zu handeln: Reduzieren Sie den Trainingsumfang für einige Tage, legen Sie einen zusätzlichen Ruhetag ein und konzentrieren Sie sich auf Schlaf und Ernährung.

Das Wichtigste in Kürze

  • Verletzungsprävention ist ein System: Der Fokus liegt auf der Identifikation von Ursachen (Asymmetrien) und nicht nur auf der Behandlung von Symptomen.
  • Hierarchie der Effektivität: Gezieltes Krafttraining ist die wirksamste Methode zur Erhöhung der Belastbarkeit und hat eine höhere Priorität als Mobilität oder Dehnen.
  • Konstanz vor Intensität: Das oberste Ziel ist eine hohe Trainingsverfügbarkeit. Ein zu 90 % absolvierter Plan ist wertvoller als einzelne Spitzenleistungen, die zu Verletzungspausen führen.

Wie Sie durch integrierte Prävention und Regeneration maximale Trainingsverfügbarkeit erreichen?

Wir haben gesehen, dass die Vermeidung von Verletzungen kein Zufall ist, sondern das Ergebnis eines intelligenten und integrierten Systems. Es geht nicht darum, eine einzelne magische Übung zu finden, sondern darum, die verschiedenen Puzzleteile – Training, Prävention und Regeneration – zu einem kohärenten Ganzen zusammenzufügen. Das Ziel ist immer die Maximierung Ihrer Trainingsverfügbarkeit, denn nur wer konstant trainieren kann, wird seine Ziele langfristig erreichen. Wie eine Studie zeigte, kann ein solch systematischer Ansatz das Verletzungsrisiko um bis zu 85 % reduzieren.

Ein solches integriertes System lässt sich am besten als ein Modell mit vier tragenden Säulen beschreiben. Jede Säule ist für die Stabilität des Gesamtkonstrukts unerlässlich. Vernachlässigt man eine, gerät das ganze System ins Wanken. Die Balance zwischen den Säulen ist der Schlüssel zu nachhaltiger Leistungsfähigkeit.

Die folgende Tabelle fasst das 4-Säulen-Modell der Verletzungsprävention zusammen und zeigt, wie die verschiedenen Komponenten zusammenspielen. Es dient als strategischer Rahmen für Ihren Trainingsalltag.

Das 4-Säulen-Modell der integrierten Verletzungsprävention
Säule Komponenten Wochenaufwand Priorität
Intelligentes Training Belastungssteuerung, Periodisierung, Überwachung der Warnsignale Kontinuierlich Basis
Gezielte Prävention Krafttraining (fokus auf Asymmetrien), Mobilität, Faszienpflege 2×20 Min Hoch
Aktive Regeneration Schlaf (7-9h), nährstoffreiche Ernährung, bewusste Ruhetage Täglich Hoch
Mentales Management Stressreduktion abseits des Sports, positive Einstellung, realistische Ziele Nach Bedarf Mittel

Die praktische Umsetzung dieses Modells erfordert einen Paradigmenwechsel: weg von einer reaktiven „Reparatur-Mentalität“ hin zu einem proaktiven Management Ihrer Gesundheit. Es bedeutet, Regeneration und Prävention den gleichen Stellenwert im Trainingsplan einzuräumen wie der eigentlichen Belastung. Es ist die Summe dieser kleinen, aber konsequenten Entscheidungen, die am Ende den Unterschied zwischen Frustration und Erfolg ausmacht.

Um dieses Modell erfolgreich zu implementieren, ist es entscheidend, die Prinzipien der integrierten Prävention vollständig zu verinnerlichen und in den Alltag zu überführen.

Beginnen Sie noch heute damit, dieses System in Ihr Training zu integrieren. Analysieren Sie Ihre Schwachstellen, planen Sie Ihre Präventionseinheiten fest ein und hören Sie auf die Warnsignale Ihres Körpers, um Ihre sportlichen Ziele nachhaltig und vor allem verletzungsfrei zu erreichen.

Geschrieben von Katharina Berger, Katharina Berger ist staatlich anerkannte Physiotherapeutin und seit 11 Jahren auf Sportphysiotherapie und Biomechanik im Lauf- und Radsport spezialisiert. Als Inhaberin einer sportwissenschaftlichen Praxis in München mit Schwerpunkt Bewegungsanalyse betreut sie Athleten bei Verletzungsprävention, Technikoptimierung und Return-to-Sport nach Überlastungsschäden.